Konflikt von 1995/96
Während es um andere Aspekte des Ägäis-Streits seit längerem Konflikte gegeben hatte, blieb die Lage um Imia bis 1995 weitgehend ruhig. Anlass für die Eskalation um Imia war ein Vorfall, bei dem das türkische Frachtschiff Figen Akat am 25. Dezember 1995 vor Imia auf Grund lief und geborgen werden musste. Als griechische Ordnungskräfte zu Hilfe kamen, wies sie der Kapitän mit dem Argument ab, das Schiff befinde sich in türkischen Hoheitsgewässern und müsse daher von türkischen Schleppern befreit werden; letztendlich wurde das Schiff von zwei griechischen Bergungsschleppern in den nahe gelegenen türkischen Hafen Kiuluk geschleppt. Am 29. Dezember ließ die Türkei Griechenland eine Verbalnote zukommen, worin behauptet wurde, die Imia-Felseninseln seien Teil des türkischen Territoriums und gehörten zur Provinz Bodrum. Am 9. Januar übermittelte Griechenland über seine Botschaft in Ankara eine Verbalnote, in der die vorgebrachten Behauptungen zurückgewiesen wurden.
Der Vorfall fand zunächst kaum Beachtung in der Öffentlichkeit. Erst ein Bericht über den Austausch der Verbalnoten anlässlich der Havarie in der griechischen Zeitung Gramma am 20. Januar 1996, einen Tag nach der Vereidigung des neuen griechischen Premierministers Konstantinos Simitis, brachte den Stein ins Rollen. Der Sachverhalt wurde intensiv in den Medien diskutiert und der Bürgermeister von Kalymnos und ein Priester begaben sich am 26. Januar nach Imia, um dort eine griechische Flagge zu setzen. Am 27. Januar ließen sich einige Journalisten der türkischen Zeitung Hürriyet mit einem Hubschrauber nach Imia fliegen, entfernten die griechische Flagge und setzten an ihre Stelle eine türkische, wobei sie sich live für das türkische Fernsehen filmen ließen. Die griechische Regierung beorderte daraufhin ein Schiff ihrer Kriegsmarine nach Imia und ließ die türkische Flagge am 28. Januar wieder entfernen und an deren Stelle die griechische Flagge setzen. Ferner ließ Simitis die auf der östlichen Insel angebrachte griechische Flagge durch einige Marinetaucher bewachen, auf der westlichen Insel wurde hingegen keine griechische Einheit stationiert. Es kam zu einem heftigen verbalen Schlagabtausch zwischen der türkischen Regierungschefin Tansu Çiller und Simitis. Während seiner ersten Regierungserklärung als griechischer Ministerpräsident am 29. Januar wies Simitis die Forderung Çillers, dass um den Status der Inseln verhandelt werden müsse, zurück. Die Flotten beider Staaten wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Ein Schlichtungsversuch des US-Präsidenten Bill Clinton, der am Morgen des 30. Januar begann, blieb ergebnislos.
Gegen 14:30 Uhr des 30. Januar waren laut den Aufzeichnungen des griechischen Generalstabs[1] im Großraum um die Imia-Inseln bis zur Zentral-Ägäis bereits 33 Kriegsschiffe anwesend, davon 15 griechische und 18 türkische. Gegen 18:00 Uhr versuchten ein Schnellboot und gleichzeitig ein Schlauchboot der türkischen Marine, Einheiten auf Imia anzulanden, beide wurden jedoch von griechischen Schnellbooten abgedrängt. In einer nächtlichen Kommandooperation ließ die Türkei am 31. Januar um 1:40 Uhr die unbewachte westliche der beiden Imia-Inseln durch eine militärische Einheit besetzen. Ein Hubschrauber der griechischen Marine stürzte um 4:50 Uhr bei einem Beobachtungsflug nahe der westlichen Imia ab; alle drei Insassen kamen ums Leben, wobei inoffiziell von griechischer Seite türkischer Beschuss dafür verantwortlich gemacht wurde; offiziell wurde dieser Vorfall aber nicht weiter kommentiert, um die angespannte Lage nicht noch weiter aufzuheizen.[2]
Um zwischen beiden Seiten zu vermitteln, schaltete sich erneut US-Präsident Clinton, in dessen Auftrag zusätzlich US-Diplomat Richard Holbrooke und NATO-Generalsekretär Javier Solana ein. Daraufhin zogen sich die türkischen und griechischen Kriegsschiffe aus dem Gebiet um Imia zurück. Der Gebietsstreit blieb im Übrigen aber unbereinigt; der damalige griechische Ministerpräsident Simitis beschrieb das Vorgehen der Türkei als aggressiv.[3]
Historische Grenzregelungen
Politische Karte der Region um die Inseln Imia/Kardak mit der Grenze entsprechend dem Ankara-Protokoll von 1932. Die Imia-Inseln sind mit „G“ und als unter italienischer Souveränität stehend (blau) gekennzeichnet.
Historische Grenzregelungen
Die Südlichen Sporaden gehörten bis zum italienisch-türkischen Krieg zum Osmanischen Reich, das 1912 den Dodekanes an Italien abtreten musste. Eine endgültige Regelung über den Besitz der Inseln traf dann der Friedensvertrag von Lausanne am 24. Juli 1923. Darin stimmte die Türkei der Abtretung des Dodekanes an Italien zu. Nach der Niederlage Italiens im Zweiten Weltkrieg gingen dessen Rechte an den Inseln auf Griechenland über (Pariser Friedenskonferenz 1946). Weder der Vertrag von Lausanne noch der von Paris zählen aber alle betroffenen Inseln auf, sodass nicht eindeutig geklärt ist, inwieweit auch Imia unter den Souveränitätsverzicht der Türkei auf den Dodekanes fällt.
Im Vertrag von Lausanne heißt es in Artikel 12, dass die Souveränität für einen Streifen von 3 Seemeilen vor der türkischen Küste bei der Türkei verbleibe, soweit anderweitig keine davon abweichenden Regelungen bestehen. Artikel 15 hält fest, dass die Türkei auf die 13 größten namentlich aufgezählten Dodekanes-Inseln verzichtet, sowie „auf die diesen benachbarten Inseln“. Imia liegt knapp außerhalb der 3-Meilen-Zone, ist allerdings auch nicht offensichtlich anderen Dodekanes-Inseln „benachbart“ im Sinne des Artikels 15 – die türkische Seite verweist darauf, dass sich Imia näher an der türkischen Küste als an Kalymnos, der nächsten Insel, die explizit im Vertrag erwähnt wird, befinde und dass Imia daher, wenn schon nicht explizit als Besitz der Türkei, so doch zumindest als eine Insel zu betrachten sei, zu der der Vertrag keine endgültige Regelung getroffen habe. Griechenland dagegen argumentiert, dass aus dem Kontext heraus klar sei, dass die Türkei keinen Anspruch jenseits der 3 Meilen erheben könne.
Nach dem Abschluss des Lausanner Vertrages kam es vereinzelt zu unterschiedlichen Interpretationen zwischen Italien und der Türkei (die aber nicht direkt Imia betrafen). Um dies zu bereinigen, unterzeichneten beide Seiten im Jahre 1932 in Ankara ein Protokoll, das von Vertretern der beiden Außenministerien unterzeichnet wurde. Es legte die Grenze – dokumentiert durch entsprechende kartographische Darstellungen – genau fest; Imia wurde dabei Italien zugesprochen. Die Türkei wies im späteren Imia-Konflikt darauf hin, dass das Protokoll nicht den Status eines völkerrechtlichen Vertrags gehabt habe, die griechische Seite sieht darin dennoch eine bindende Vereinbarung und das damalige Eingeständnis der türkischen Seite, dass auf Imia verzichtet werde. Im Jahre 1950 waren außerdem die Grenzen des Luftraumes für den Flugverkehr vereinbart worden. Im entsprechenden Abkommen wird auf die gegenseitig anerkannten Meeresgrenzen hingewiesen; für die griechische Seite ein Hinweis darauf, dass von vertraglich nicht festgelegten Hoheitsrechten über einzelne Inseln keine Rede sein könne. Entsprechende Karten zum Abkommen zeigen Imia als zu Griechenland gehörig. Die Türkei hält dagegen, dass es 1950 nicht um Souveränitätsfragen gegangen sei.
Tatsächliche Akte der Souveränitätsausübung hat es in Bezug auf Imia vor 1995 kaum gegeben, da die Inseln als zu unbedeutend angesehen wurden. Sie waren nie besiedelt und wurden auch sonst in keiner Weise vom Menschen genutzt. Anders verhält es sich dagegen bei mehreren anderen Ägäis-Inseln, auf die die Türkei Anspruch erhebt. Einige dieser Inseln sind bewohnt, andere weisen Leuchttürme u. ä. auf, wobei die Nutzung stets auf griechische Zugehörigkeit hinweist.
Was kartographische Darstellungen vor 1995 angeht, so zeigen die meisten (auch türkischen) Karten Imia als griechischen Besitz, doch hat es hier zum Teil auch Unklarheiten und Verwechslungen gegeben; so fand sich auf griechischen topographischen Karten die nahegelegene Insel Zouka als griechischer Besitz markiert, obwohl diese innerhalb der türkischen 3-Meilen-Zone liegt. Die griechische Seite gestand dies als technischen Fehler ein und erklärte, das Zouka in der Tat zur Türkei gehöre. Somit spiegelten kartographische Darstellungen oft eher widersprüchliche Angaben aufgrund technischer Unsicherheiten als die tatsächliche rechtliche Situation wider, wurden aber zugleich zur Begründung rechtlicher Ansprüche verwendet.
Dritte Staaten haben sich aus der rechtlichen Bewertung der Hoheitsfrage bislang weitgehend herausgehalten. Die US-amerikanische Behörde National Imagery and Mapping Agency (NIMA), die am 1. Oktober 1996 gegründet wurde, markiert die Inseln in ihren am 6. Oktober 1996 veröffentlichten Karten und in allen im Folgenden veröffentlichten Karten als „Vrakhoi Imia“ (Imia-Felsen) unter griechischer Souveränität, ohne Erwähnung des türkischen Namens „Kardak“. Weitergehende Stellungnahmen der USA gab es bisher jedoch nicht.[4]